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SAP'side-by-side extension

BPA-Plattformen (Business Process Automation) entwickeln sich von Nischenlösungen zu zentralen Werkzeugen der Corporate IT. Gartner etablierte 2025 die neue BOAT-Kategorie (Business Orchestration and Automation Technology), die Case Management, BPM (Business Process Management), Low Code, RPA und Process Mining vereint. Im Leaders Quadrant positionieren sich Appian, Pega und ServiceNow, gefolgt von Spezialisten wie Camunda und Mendix sowie den großen Playern wie IBM, SAP und Microsoft. BOAT-Lösungen spielen ihre Stärken unter anderem bei „side-by-side Extensions“ aus – ideal für Unternehmen, die ihre Core-Systeme möglichst wenig anpassen möchten. Im Interview berichtet Daniel Wenzel (Deutsche Telekom) von der Einführung und dem Einsatz einer BOAT-Plattform. Die Fragen stellt Nils Müller-Sheffer (Accenture).


  • 07.12.2025
  • Lesezeit: 11 Minuten
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Kannst du mir zu Beginn kurz deine Rolle beschreiben?

Wenzel: Ich bin Senior Vice President Design Authorities bei Deutsche Telekom Services Europe und verantwortlich für IT- und Prozessgovernance. Ich habe den Konzernauftrag, für alle Finanzsysteme und einen Großteil der Personalsysteme sicherzustellen, dass sich IT-Architektur und Prozesse im Standard bewegen; dass sie sowohl technisch als auch über die verschiedenen Konzerneinheiten hinweg möglichst gleichförmig ablaufen.

Als ich mich mit BOAT (https://www.gartner.com/reviews/market/business-orchestration-and-automation-technologies) und der Kombination von SAP mit Pega, Appian und vergleichbaren Plattformen beschäftigt habe, bin ich auf Begriffe wie „side-by-side Extension“ und auch „Agility Layer“ gestoßen. Hat dieses Muster bei euch einen Namen?

Wenzel: Wir fassen das unter zwei Begriffen zusammen. Zum einen unter der Flagge Clean Core und dann ist es die side-by-side Extension.

Ich habe den Auftrag, dass alle Finanzsysteme und ein Großteil der HR über die verschiedenen Konzerneinheiten hinweg möglichst gleichförmig ablaufen

Was war für euch der ursprüngliche Anlass, Pega einzuführen?

Wenzel: Pega (https://www.pega.com/de/products/platform) war für die Ablösung unseres HR-Ticket-Systems eingeführt worden, auf dem bei uns alle individuellen Prozesse in HR (Personalwesen) liefen.

SAP HCM bietet ja ein sehr robustes Umfeld für alle Kern-HR-Prozesse wie Zeiterfassung, Gehalt, Urlaub usw. Da sollte man auch tunlichst im Standard bleiben und auch das Rad nicht neu erfinden. Aber was häufig fehlt im Markt, ist eine Lösung für beispielsweise „Arbeitsvertrag erstellen“, „Lebensarbeitszeitkonto abschließen“, „Abmahnung schreiben“. Wir haben zum Beispiel einen neuen HR-Prozess eingeführt „Urlaub kaufen“, bei dem Mitarbeiter Gehalt gegen zusätzliche Urlaubstage tauschen können. Also ganz viele, etwas individuellere Themen.

Uns fehlte dafür das klassische Case-Management und damit auch die Integration in Drittsysteme.

Wie lief dann die Einführung im HR-Umfeld?

Wenzel: Wir haben sehr viel Energie in die Architektur gesteckt und sie so aufgesetzt, dass wir wiederverwendbare Elemente entwickelt haben. Das hat jetzt, wo unser HR-Projekt abgeschlossen wird, den Vorteil, dass wir für andere Konzernbereiche sofort viele Benefits bereitstellen können. Zum Beispiel die Integration in unsere klassischen Middleware-Applikationen, Services wie Single Sign-on, Verbindungen zu Standard-SAP-Objekten und andere Funktionalitäten wie Archivsysteme, Entwicklertools, Dokumentenerzeugung usw., die somit kein zweites Mal gemacht werden müssen.

Wie entscheidet ihr in dem Side-by-side-Modell, welche Use Cases auf welche Plattform gehen?

Wenzel: Alles, was hoch-volumige Transaktionen sind, Batchläufe usw., soll auf SAP BTP umgesetzt werden. Wir nutzen sehr intensiv die BTP Integration Suite, gerade wenn es darum geht, Daten zu strukturieren und in den Austausch zu bringen. Für Custom Reports ist BTP ebenso das bevorzugte Instrument, weil es über entsprechende Komponenten verfügt.

Pega wollen wir immer dann nutzen, wenn wir über wirkliche Workflows – also Arbeitssequenzen – reden, wo wir viel Geschäftslogik haben, oder wo wir mit nicht nativen SAP-Benutzern sprechen oder bei Themen, die über ein Contact Center laufen oder direkt mobil verfügbar sein sollen. Gerade durch Pega Constellation [Pega Frontend Framework] kommt der mobile Anwendungsfall quasi out-of-the-box mit. Auch wenn es um Anwendungsfälle mit Integrationen in Non-SAP-Systeme geht, spricht das tendenziell eher für eine Pega basierte Umsetzung. Pega koordiniert in dem Fall die Arbeitsabfolge, bindet menschliche Aktivitäten und Entscheidungen ein und steuert den Datentransfer.

Am Ende ist es schwierig, einen Schwarz-weiß-Entscheidungsbaum zu haben – wir wägen die Anwendungsfälle jeweils ab.

Wir haben das Reference-Case Model entwickelt, einen Baukasten mit wiederverwendbaren Elementen

Wie sieht euer Entwicklungsvorgehen aus?

Wenzel: Wir haben einmal das klassische agile Entwickeln mit Definition of Ready und die Definition of Done usw. wo wir so im Schnitt mit einem Team ca. 3 bis 4 Monate für einen Prozess brauchen. Der ist dann aber hochautomatisiert und tief integriert in SAP.

Aber wir haben auch diese klassischen Checklisten-Prozesse. Die werden so zwischen 50- bis 500-mal im Jahr ausgeführt. Das ist also kein Mengengeschäft, wenn man nachher im Service ist. Aber wir haben dafür etwas entwickelt, was sich Reference-Case Model nennt, ein Baukasten mit wiederverwendbaren Elementen. Das ist ganz charmant für die Fachseite, weil sie einen Prozess in draw.io aufmalt und ein Excel-Template ausfüllt und damit ihre fachlichen Anforderungen definiert hat. Das ermöglicht uns, einen Prozess von Elaboration bis Fertigstellung innerhalb einer Woche hinzubekommen.

Was sind nach deiner Erfahrung Erfolgsfaktoren, um at-scale zu liefern auf der Pega-Plattform?

Wenzel: Wenn ich an ein erfolgreiches Pega-Projekt denke, dann ist für mich der erste Baustein, dass ich eine gewisse Akzeptanz und Verständnis für das Produkt brauche. Pega besitzt eine eigene Philosophie, genauso wie SAP eine eigene Philosophie besitzt. Und die muss man sowohl als IT als auch als Fachbereich verstehen. Daher finde ich es sehr wichtig, dass man dort in Ausbildung investiert.

Das zweite ist, ich würde mit einfachen Prozessen anfangen, um inkrementell die wiederverwendbaren Objekte zu bauen. Es funktioniert einfach nicht, wiederverwendbare Elemente am Reißbrett zu machen. Das höre ich von ganz vielen, die in den ersten Pega-Projekten sind. Die sagen: „Wir machen uns jetzt erst mal Gedanken, was wir alles an wiederverwendbaren Objekten bauen“. Das funktioniert nicht. Ich empfehle immer, mit einem einfachen Prozess zu beginnen und jetzt nicht mit dem größten Schiff, was man im Hafen liegen hat.

Du hattest vorhin berichtet über eure Template-Lösung für kleinere Prozesse, und dass ihr jetzt innerhalb von einer Woche solche Dinge in Produktion bringen könnt. Was wäre der Vergleich zu vorher?

Wenzel: Früher hätten wir für diese Prozesse 6 bis 8 Wochen gebraucht, diese hätten dann aber immer noch über keinerlei Automation und keinerlei Schnittstellen verfügt. Wir verwenden jetzt die Schnittstellen, die wir in dem Umfeld haben, immer wieder und sei es nur für das Vorbefüllen von Stammdaten, das Bereitstellen von Datenobjekten, oder das Sperren und Entsperren von bestimmten Infotypen.

KI hat da den größten Wert, wo der Mitarbeiter kein Endgerät zur Dateneingabe hat

Was plant ihr, oder habt ihr vielleicht sogar schon pilotiert, um GenAI oder AgenticAI in Geschäftsprozesse einzuflechten?

Wenzel: Das, wo meiner Meinung nach KI den größten Wert hat, ist dort, wo der Mitarbeiter kein Endgerät zur Dateneingabe hat. Ich denke an das Baugewerbe, Paketzusteller, Supermarktmitarbeiter. Was wir manchmal vergessen, ein Großteil unserer Industrie besteht aus Blue-Collar-Workern. Die könnten über ein einfaches Telefon und KI-gestützten Sprach-Dialog natürlich hervorragend HR- oder andere Services in Anspruch nehmen.

Pega nutzen wir da zum Beispiel, um frühzeitig den Antragsteller zu identifizieren und auch die entsprechenden Geschäftsregeln transparent zu machen, also, tariflich vs. außertariflich, welche Gesellschaft, gesetzlich oder privat versichert usw., was dann wieder dominierend für den Prozess ist.

Wie wird euer nächster Schritt in Richtung Agentic aussehen?

Wenzel: Man sollte sich fragen: Wie wachsen die verschiedenen Elemente zu einer Serviceplattform zusammen? Pega erlaubt uns, einen wirklichen Agenten-Arbeitsplatz aufzubauen. Mit dem Grundgedanken, dass wir an einer Stelle unsere Contact-Center-Aktivitäten zusammenführen. Also Chat, E-Mail, Voice, und Papier, und wir darüber einen zentralen Kommunikationskanal haben; oder am Beispiel Mitarbeiter, eine komplette Fallakte vorhalten. Da ich hier die Vorgänge aus verschiedenen Systemen sehe, habe ich darüber perspektivisch die Möglichkeit, KI anzuwenden.

Ich glaube, dass eines der Grundthemen ist, ein Ökosystem zu etablieren, in dem eine KI sich bewegen kann. In dem es Daten-Objekte hat, in dem es Transaktionen auslösen kann und so weiter. Einer unserer nächsten Schritte wird sein, auf die Pega Cloud zu wechseln, um dann in einem Ökosystem zu arbeiten, was uns größere Flexibilität für KI-Anwendungen erlaubt.

Das große Wertversprechen von AgenticAI ist doch, dass wir Prozesse, die heute unterbrochen sind, wo ein Sachbearbeiter etwas bewerten und ausfüllen muss usw., dass ich diese nun zumindest teil-automatisieren kann. Der Sachbearbeiter muss hinterher noch prüfen, aber kann es dann mit wenig Aufwand freigeben.

Wenzel: Ich halte das für eine der größten Hürden, um ehrlich zu sein. Womit würde ich denn anfangen, wenn ich AgenticAI einführe? Wahrscheinlich mit den Prozessen, wo ich heute schon RPA (robotic process automation) laufen habe. Im Umkehrschluss bedeutet das, das ist eher ein Technologiewechsel, der wahrscheinlich relativ einfach geht, weil ich ein vernünftig beschriebenes Regelwerk und gute Dokumentation habe. Aber das Einsparpotenzial wird übersichtlich sein.

KI hilft nicht, die Anzahl der Touchpoints zu reduzieren

Aber warum wäre das für dich der erste Schritt? Wenn etwas schon automatisiert ist, egal in welcher Technologie, warum will man das anfassen? Welchen Vorteil würdest du dir davon erhoffen?

Wenzel: Mein Bild von AgenticAI ist, dass ich zum Beispiel den HR-Agenten simulieren möchte. Also einer KI den Werkzeugkasten gebe, dass diese sich entweder verschiedener KI-Agenten bedient oder aus verschiedenen Optionen eigenständig auswählt, um für ein Anliegen die richtige Vorgehensweise, den richtigen Prozess zu starten.

Da fange ich natürlich nicht mit den komplexen Prozessen an und auch nicht mit denen mit menschlichem Ermessensspielraum. Und dann bin ich ganz schnell bei den transaktionalen Themen und die sind schon heute hoch-optimiert.

Ich sehe das so, dass dort, wo die Inputs noch unstrukturiert sind und zunächst interpretiert werden müssen, um das Anliegen und richtige Vorgehen abzuleiten … wie du sagest, zum Beispiel Anfragen von Mitarbeitern in der Produktion, die nicht vor einem Bildschirmarbeitsplatz sitzen, wo ich E-Mails oder Chats bekomme, dort sind Agentic-Systeme superstark. Wenn ich da heute nicht hoch-automatisiert bin, dann wäre das mein erster Schritt. Nicht mit dem Ziel, voll autonom zu werden, aber Dinge so vorzuverarbeiten und vorzubereiten, dass ein Sachbearbeiter den x-fachen Durchsatz hat.

Wenzel: Ich verstehe den Impuls und würde trotzdem widersprechen. Warum? Eine unserer ersten Aktivitäten war eine Kundenkanallenkungsstrategie, mit dem Ziel gerade E-Mail und Post abzuschaffen oder auf ein Minimum zu reduzieren. Warum?

Weil dort zunächst – in unserer Sprache – „Produktionsreife“ hergestellt werden muss. Denn selten sind Anfragen dieser Art richtig, vollständig, fehlerfrei. Das heißt, die KI muss zurückgehen an den Antragsteller und diesen auffordern, die fehlenden Informationen nachzuliefern. Häufig reagiert der Antragsteller nicht, dann muss ihn irgendwer anrufen usw. Die Laufzeit wird sofort eine Katastrophe. Die Anzahl der Touchpoints ist nicht gut.

Auf der anderen Seite, wenn ich darin investiere und mir überlege, was hindert eigentlich Menschen daran, Web-Self-Service zu nutzen, sehe ich eine größere Chance. Um da mal einen Vergleich zu machen. Aktuell haben wir in Deutschland 90.000 Mitarbeiter. In einer normalen Woche haben wir 2.000 E-Mails an das HR-Team – da haben andere Unternehmen vergleichbarer Größe zum Teil die 5- bis 10-fache Menge.

Superspannende Diskussion! Lass mich aber noch auf unser ursprüngliches Thema zurückkommen und das ist dann auch meine letzte Frage für heute. Wäre deine Erwartung, dass das Side-by-side-Modell nun weitere Nachahmer findet?

Wenzel: Ich sag mal so, Laserdisc und Beta-Max haben sich auch nicht durchgesetzt. Soll heißen: Es braucht mutige Projekte, die neue Wege beschreiten und Lösungen wählen, die sich außerhalb von SAP Customizing bewegen.

(*beide lachen*)

Ich denke, wir sind da vor der Welle, mit einigen anderen. In der DACH-Community tauscht man sich intensiv aus. Aus meiner Sicht wird das ein differenzierendes Merkmal für jede S4 Transition oder andere Kern-System-Modernisierung.

Daniel, ich bedenke mich für das tolle Gespräch, die vielen Einblicke und deine Einschätzung zu dem Thema. Es war super interessant!

Wenzel: Sehr gern. Bis zum nächsten Mal!

Daniel Wenzel

Daniel Wenzel verantwortet als SVP Design Authority die Standardisierung und skalierbarer Digitalstrategien für die Finanz- und Personalsysteme der Deutschen Telekom. Er steuert komplexe Großprojekte mit Fokus auf digitale Wertschöpfung, strukturierte Governance und plattformunabhängige Prozessarchitektur. Als Hochschuldozent und Keynote-Speaker baut er Brücken zwischen Business und IT.

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